
Ständiges Diakonat: Eine Resonanz auf Stefan Sander
Scouts und Zeugen
Die sich rasant verändernde Sozialform der Kirche verlangt, dass die Aufgabe des Ständigen Diakons neu gefunden werden muss. Diakone können der christlichen Gemeinschaft helfen, ihr Verhältnis zu Gott und ihrer Lebenswelt neu zu bestimmen.
(Essay ursprünglich veröffentlich in: Herder Korrespondenz (74) 2021, Heft 2, 39-40.)
Stefan Sander hat mit seinem Weckruf „Die Marginalisierten“ eine sehr gründliche Bestandsaufnahme zur Situation des Ständigen Diakonats vorgelegt (vgl. HK, September 2020, 32–36). Sander, geboren 1962, ist im November 2020 überraschend verstorben. Er war Geschäftsführer des Internationalen Diakonatszentrums (IDZ) mit Sitz in Rottenburg und 15 Jahre lang in der Ausbildung Ständiger Diakone im Bistum Osnabrück tätig. In seinem Beitrag benannte Sander auch erste Kriterien, die er bei einer zukünftigen Gestaltung des Diakonats als wichtig erachtete: „Eines ist sicher: Profilgewinn, Gestaltfindung gelingt weder isolationistisch noch ohne Rückbezug auf die sich immer schneller verflüssigende Sozialform der Kirche. Zudem sollte die Wahrheit des Amtes sich daran messen lassen, in welcher Gestalt sie Sinn stiftet, sich im Leben der Menschen bewährt. Geschlechtergerechtigkeit und theologische Redlichkeit legen nahe, das Diakonat der Frau einzuführen.“
In der Tat finden sich diese Antworten im Spannungsfeld der Begegnung zwischen dem Leben der Menschen und den Notwendigkeiten der christlichen Gemeinschaft. Eben diese christliche Gemeinschaft findet sich hierzulande in einem tiefgehenden Transformationsprozess wieder, der auf Zukunft hin ihren Platz innerhalb der Gesellschaft nachhaltig neu bestimmen wird. Ihre Bedeutung wird sich wandeln – sie wird mehr noch als heute nur eine Stimme unter vielen sein. Diese Gemeinschaft wird sich in sehr heterogener Weise darstellen – Teilhabe an ihr wird sich in ganz unterschiedlichen Formen und Intensitäten zeigen. Viel grundlegender stellt sich schließlich die Frage, wie diese Gemeinschaft auch den konfessionsfreien Menschen zu Diensten sein kann und will. Hier stellen sich die Relationen um: Kommen die Menschen zur Kirche oder wendet sich die Gemeinschaft den Menschen zu? In dieser Gemengelage erscheint der Diakonat gerade in seiner Gestalt im Zivilberuf – so die These – eigentlich als unverzichtbar. Warum?
Könnte nicht der Diakonat im Zivilberuf eine Form des kirchlichen Amtes sein, in dem Menschen – sakramental bestärkt und beauftragt – der christlichen Gemeinschaft helfen, ihr Verhältnis zu Gottes „anderen“ Menschen neu zu bestimmen? Könnte der Diakonat nicht mit dazu beitragen, dass die christliche Gemeinschaft ihre Sendung zu den Menschen – und hier gerade die konfessionsfreien – nachhaltig erkennt und entsprechend den Dienst am Leben der Anderen in das Zentrum des kirchlichen Handelns stellt? Der Umstand, dass das Diakonat im Zivilberuf gelebt wird, wäre dann weniger die Form einer nebenamtlichen Ausübung eines kirchlichen Amtes als vielmehr der Ausdruck eines realen Ortswechsels in die Lebenswelten ganz konkreter Menschen. Damit wendet sich auch eine Orientierung des kirchlichen Amtes, das sich zuerst auf das Leben der Menschen anderswo und erst dann auf das Innere der christlichen Gemeinschaft bezieht. Dabei geht es weniger um ein „musterhaftes Durchwirken der Berufswelt“ – auf die Nichterfüllung dieses Wunsches verweist Sander in seinem Weckruf im Anschluss an die Studie von Norbert Hark realistisch (34) – als ein neugieriges Beobachten und zur Kenntnis nehmen eines Lebens jenseits der kirchlichen Gemeinschaft. Könnte es daher nicht dem Profil des Diakonats zuträglich sein, wenn sich die Fragen in der Profilbestimmung weniger im Bezug nach der inneren Organisation und der Gestalt der kirchlichen Gemeinschaft orientieren? Viele der in Sanders Weckruf protokollierten Themen scheinen sich gerade in diesem Feld zu bewegen. Möglicherweise kann die Orientierung auf die Anderen ein grundlegender Impuls sein, der den Diakonat als sehr essentiell – eben nicht marginal – profiliert und der damit einen Teil der Erneuerung befördert, den die christliche Gemeinschaft in ihren Transformationsprozessen braucht. Wäre es denkbar, dass wir Christen und Christinnen in der Begegnung mit und damit durch den Anspruch der Anderen zu den Antworten provoziert werden, die wir hinsichtlich der weiteren Entwicklung christlichen Lebens irgendwann geben müssen? Gerade ein Diakonat im Zivilberuf wäre hier ein wichtiger Bote, der diese Impulse der Anderen in die Mitte der christlichen Gemeinschaft hineintragen könnte.

Eberhard Tiefensee, der Gottes „andere“ Menschen besonders im Blick hat, entwickelt innerhalb seiner Überlegungen zur Begegnung von christlichen und konfessionsfreien Menschen den Gedanken einer „Ökumene der dritten Art“ – in Analogie zur Ökumene erster Art mit den anderen Christen und Christinnen und der der Ökumene zweiter Art mit den anderen Glaubenden. Dabei beschreibt er auch die Figur der Scouts, der Pfadfinder, die sich in die, der kirchlichen Gemeinschaft nicht selten unbekannten oder ungewohnten, Regionen einer säkularen Gesellschaft begeben. Könnte es nicht dem Profil des Diakonats (im Zivilberuf) eigen sein, dass sich Diakone eben als diese Scouts in die Lebenswelten der Menschen aufmachen, sie neugierig erkunden und verstehen lernen. Der Dienst dieser – ich möchte sie so nennen – „Ökumeniker der dritten Art“ läge für die christliche Gemeinschaft dann darin, diese anderen, vielleicht auch fremden Lebenswelten zu erklären, diese Lebenswelten der Anderen gegenüber den Eigenen „anwaltschaftlich“ zu vertreten und Wege zu suchen, wie eine Sendung als Zeugen des Evangeliums in einem konkreten Hier und Heute lebbar ist.
In der Konsequenz kann das Verschiedenes bedeuten: Der Platz von Menschen im Diakonat fände sich seltener im Raum der Kirche. Dies würde auch das konkrete Aufgabenprofil ihres Diakonats prägen und verändern. Diakone wären vor allem auf Erkundung in den Lebenswelten der Menschen und werden dabei ihren Erfahrungen in der Begegnung, im Kennenlernen und im Zusammenwirken mit Menschen etwa in der säkularen Gesellschaft machen. Innerhalb der christlichen Gemeinschaft wäre es an Diakonen, diese Erfahrungswelt zu teilen und zu vermitteln. Hier ginge es dann besonders darum, die Getauft en zu ermutigen und dabei zu begleiten, ihren Auftrag und ihren Dienst für die Menschen zu identifizieren, anzunehmen und auszugestalten. So gesehen wären diese „Scouts“ im besten Wortsinne Führungspersönlichkeiten, die dem Volk Gottes einen wichtigen Dienst auf Wegen in unbekanntem Terrain tun. Eine so gewonnene Feldkompetenz ließe Diakone zu guten Ratgebern für die Verantwortlichen werden. Entsprechend fände sich der hauptsächliche Aktionsraum für den Diakonat auch in den anderen Lebenswelten.
Pastorale Planung sollte daher eine nötige „Ungebundenheit“ und Vielgestaltigkeit im Diakonat berücksichtigen und sicherstellen. Menschen in ihrem Diakonat sollten nicht zuerst von der christlichen Gemeinschaft und ihren inneren Bedürfnissen vereinnahmt werden. Vielmehr wäre es begrüßenswert, wenn sich ein Diakon auf den Straßen und Plätzen „herumtreibt“, ermöglicht er der christlichen Gemeinschaft vielleicht gerade dadurch ein weiterführendes Wachstum in der Nachfolge. „Lücken“ in der Organisation der Gemeinschaft wie etwa den Pfarreien sollten – wenn denn nötig und möglich – weniger in einer hierarchischen Orientierung folgend denn in einer gemeinschaftlichen, gabenorientierten Verantwortung aller Getauften geschlossen werden.
Schließlich wäre einzuholen, dass sich dieses im besten Sinne so genannte „Grenzgängeramt“ auch in die Auswahl geeigneter Menschen für den Diakonat widerspiegelt. Die verschiedenen Welten dürfen und sollten sich in den Biografien und Lebensumständen der Ordinierten zeigen. Welche Menschen haben die Fähigkeit, sich in die für die Kirche eher unbekannten Regionen zu begeben? Welche Menschen sind vielleicht längst dort zu Hause? Welche Menschen geben der kirchlichen Gemeinschaft den richtigen – vielleicht auch prophetischen – Rat? Möglicherweise stellt die Ordination zum Diakonat weniger eine exklusive Bevollmächtigung denn eine exemplarische Indienstnahme dafür dar, dass Nachfolge der Jüngerinnen und Jünger auch in unbekannten Ländern möglich ist. Vermutlich liegt ein Schritt, um die von Sander in seinem Weckruf beschriebe prekäre Lage des Diakonats zu bewältigen, auch darin, dieses Dienstamt in einer bewusst „missionarischen“ Perspektive zu betrachten. Dabei geht es weniger darum, innerkirchliche Spannungen zu negieren oder zu übergehen, als vielmehr darum einen weiteren, wichtigen Blick zu ergänzen. Kurz: Welchen Diakonat braucht eine Kirche, die sich in ihrer Sendung an jenen „anderen“ Menschen orientiert, zu denen sie sich von Gott gesandt weiß?
